Berliner Wirtschaft vor der Vergesellschaft

Prekäre Arbeit ist in Berlin in allen Wirtschaftszweigen weit verbreitet: Zu diesem Schluss kommt der erste vorläufige Bericht zur Struktur der Berliner Wirtschaft, den die neugegründete Vergesellschaftungskommission gestern vorgelegt hat. Um das Ziel Vergesellschaftung zu erreichen, so die Forderung der Kommission, müsse die Berliner Wirtschaft stark verändert werden. Viele Bereiche seien bislang für einen gemeinwohlorientierten Zweck ungeeignet. Auch müssten die Arbeitsverhältnisse auf den Prüfstand gestellt werden, wie dies etwa im Gesundheitswesen bereits geschehe. Der Bericht liefert hierfür eine erste Bestandsaufnahme.

Die Kommission war auf der ersten gemeinsamen Kiez- und Betriebsversammlung für ganz Berlin gegründet worden. Kritiker behaupten, der Senat habe der Kommission nur zugestimmt, um die immer noch anhaltenden Streiks, Betriebsbesetzungen und wilden Vergesellschaftungen zu beenden. Richard Müller, Vorsitzender der Kommission, gibt zu, dass es diese ohne den Druck der seit Monaten anhaltenden Auseinandersetzungen nicht geben würde. Die beabsichtigte Vergesellschaftung brauche aber ein planmäßiges und geordnetes Verfahren: „Vergesellschaftung bedeutet nicht einfach Verstaatlichung. Wir wollen sicherstellen, dass die Produktion demokratisch durch die Beschäftigten organisiert wird und die Berliner Betriebe für die Bedürfnisse aller Einwohner der Stadt arbeiten, anstatt für die Profite einiger weniger“, so Müller bei der Vorstellung des Berichts. Daher müssten auch die Bürger an ihrer Leitung beteiligt werden. Als Vorbilder nannte er die zahlreichen gemeinwohlorientierten Kooperativen in der Stadt und die neuen kommunalen Energie- und Wasserversorger.

Unbestreitbar notwendig sei die Lebensmittelindustrie mit 11.000 Beschäftigten, auch wenn ein großer Teil auf die Süßwarenproduktion und die Getränkehersteller, vor allem Bier und Kaffee, entfällt. Wie im gesamten verarbeitenden Gewerbe ist hier die Zahl der Normalarbeitsverhältnisse in den letzten Jahren stark zurückgegangen. Über ein Drittel der Beschäftigten sind Leiharbeiter, Scheinselbstständige oder befristet Beschäftigte. Besonders miserabel sind die Bedingungen in der Fleischindustrie im Berliner Umland, wo viele Arbeitskräfte aus Osteuropa schuften. Aber auch bei den in Berlin besonders vertretenen Elektroherstellern, Maschinenbauern und der Pharmaindustrie finden sich viele verschiedene Arbeitsverhältnisse unter einem Dach. Möglich wurde dies durch Auslagerungen von Aufgaben an Fremdfirmen und Betriebsausgründungen. In den Berliner Technologie- und Industrieparks, wie der Siemensstadt, sind viele formell voneinander unabhängige Betriebe angesiedelt, die früher Bestandteile desselben Unternehmens waren.

Insgesamt machen die in der Berliner Industrie arbeitenden 119.000 Beschäftigten nur acht Prozent aller Erwerbstätigen in der Stadt aus. Nach wie vor hat die Berliner Industrie also eine geringe Bedeutung, von den massiven Einbrüchen nach der Wende hat sie sich nicht mehr erholt.

In den übrigen Wirtschaftssektoren (siehe Kasten) herrschen laut Bericht jedoch noch prekärere Verhältnisse als in der Industrie. Unsichere Arbeitsverhältnisse und niedrige Löhne finden sich sowohl in den Berliner Hotels als auch an den Hochschulen oder in den Start-ups. Das hat den Ruf Berlins als „Hauptstadt der Prekären“ begründet: 500.000 Menschen, also knapp 40 Prozent der Erwerbstätigen, sind hier prekär beschäftigt. Betroffen sind besonders viele junge Menschen und Migranten von innerhalb und außerhalb der EU.

Eine weitere Erkenntnis des Berichts: Die Fluktuation auf dem Berliner Arbeitsmarkt ist sehr hoch. Oft wechseln die Leute zwischen Arbeitslosigkeit, befristeter Anstellung und Werkverträgen. Die Grenze zwischen den knapp 180.000 Erwerbslosen in der Stadt und den Erwerbstätigen verschwimmt so immer mehr – die gemeinsame Organisierung beider Gruppen, die in den letzten Monaten an vielen Orten in Berlin zu beobachten war, wurde dadurch sicher begünstigt. Die lokalen Streikbündnisse aus prekär Beschäftigten und Erwerbslosen hatten zusammen mit den Streiks im Gesundheitswesen zur Ausbreitung der Streikbewegung und ihren oft ungewöhnlichen Aktionsformen beigetragen.

Die Uneinheitlichkeit vieler Wirtschaftszweige, die hohe Anzahl an Klein- und Kleinstbetrieben, aber auch die Digitalisierung mit ihren Crowdworking-Plattformen und Online-Diensten stellen laut der Kommission eine besondere Herausforderung für die Vergesellschaftung dar. Erste positive Ansätze gibt es aber bereits mit den in den Streiks entstandenen gemeinnützigen Plattformen und Online-Kooperativen.

„Schwieriger sieht es bei dem ebenfalls sehr großen Bereich der unternehmensnahen Dienstleistungen aus“, so der Kommissionsvorsitzende Müller. Hierzu gehören Zweige wie die Gebäudereinigung, die unbestreitbar weiterhin notwendig sind. Andere, vor allem Finanzdienstleistungen, die Rechts- und Marketingabteilungen sowie das Management in den privaten profitorientierten Unternehmen, haben laut der Kommission jedoch keine gemeinnützige Funktion. „Hier wartet also noch eine große Aufgabe der Reorganisation und Umschulung“, sagte Müller. Die Ausbildung der in diesen Bereichen Beschäftigten sei für die neuen Anforderungen ungeeignet, oftmals herrsche hier noch ein veraltetes Status- und Leistungsdenken.

Berliner Wirtschaft in Zahlen

Die größten Wirtschaftssektoren in Berlin sind das Gesundheitswesen mit 226.000 Beschäftigten, der öffentliche Dienst mit 193.000 (wozu auch Lehrer und Erzieher gehören) und Verkehr und Logistik mit 101.000 Beschäftigten, wozu noch die Logistikzentren im Berliner Umland hinzukommen. Die größten Unternehmen sind die Deutsche Bahn, die Charité, Vivantes und die BVG. Daneben florieren auch das Gastgewerbe und die Tourismusindustrie sowie Forschung und Kultur. Allein die Clubszene beschäftigt über 8000 Personen. Einen besonderen Boom erlebte zuletzt die Internetwirtschaft, wo sich die Beschäftigtenzahlen von 2012 bis heute auf über 13.000 Menschen mehr als verdoppelt haben.

Bild: Maike Heinrichs