Aufbruch in Anderlecht

Das Spitzentreffen der Europäischen Kommission am Wochenende verspricht eine grundlegende Kehrtwende der EU.

Die neue Mentalität wird schon in dem Veranstaltungsplan deutlich, den die Pressestelle für den EU-Gipfel am kommenden Wochenende nun veröffentlichte. Symbolisch soll statt des jahrzehntelang üblichen Sektempfangs diesmal ein schlichtes Abendessen die Konferenz eröffnen. „Die Regierungschefs werden gemeinsam für das ganze Personal eine Kartoffelsuppe nach einem Rezept von Angela Merkel kochen“, erzählt der Sprecher der Vorbereitungsgruppe, der Niederländer Pieter de Vries. Neben Demut und Bescheidenheit wolle man damit vor allem den neuen Willen zur Zusammenarbeit betonen.

Auch das Ambiente wird wohl für viele BetrachterInnen ungewöhnlich wirken: Nachdem die Europäische Kommission Anfang des Jahres ihre repräsentativen Gebäude verlassen hat, um Platz für eine Europa-Universität zu machen, hat sie ihren neuen Sitz in einem Bürokomplex in Plattenbauweise bezogen. „Das Haus stand jahrelang leer, da war uns sofort klar, dass wir einen Neubau nicht rechtfertigen können“, sagt de Vries.

Die mit Graffiti überzogene dunkelgraue Fassade des Zwölfstöckers im Brüsseler Problembezirk Anderlecht soll nun die Kulisse für einen historischen Gipfel bieten: Nicht weniger als eine Neugründung der EU wolle man am Wochenende vollziehen, wie Mercedes Iglesias, Sprecherin der Kommission vorträgt.

„Es wurden in der Vergangenheit schwere Fehler gemacht, die viele Menschen in Armut stürzten und das Vertrauen ins uns nachhaltig erschütterten“, erzählt die Spanierin Iglesias kopfschüttelnd. „Denken Sie nur an die Eurokrise!“. Damals hatte das Ungleichgewicht in den Handelsbeziehungen viele europäische Staaten in den wirtschaftlichen Niedergang gestürzt. „Und wie hat die EU reagiert? Sie hat diesen Staaten brutale Sparkurse verordnet, die ihnen auch noch das letzte Bisschen Produktivkraft raubten!“. Iglesias‘ Mundwinkel verschiebt sich zu einem gequälten Lächeln: „Ich müsste lachen, wenn ich nicht selbst damals arbeitslos geworden wäre. Nach ein paar Monaten konnte ich die Arztrechnungen für meine Kinder nicht mehr zahlen, wir verloren unsere Wohnung und alle Ersparnisse.“

Zu solchen Zuständen soll es nie wieder kommen, das macht bereits der erste Artikel des Neugründungsvertrags deutlich: „Erste und oberste Maxime politischen Handelns ist die Realisierung der Menschenwürde; die politische, soziale und ökonomische Gleichheit aller bedingt sie.“ Die EU wird nach dem Geist des neuen Vertrags ein Gremium zur Koordination der vielen Tausend vergesellschaftlichten Betriebe in Europa sein. Ihr Wirken soll schädlichen Wettbewerb zwischen den Ländern verhindern und die ökonomischen Ungleichheiten so ausgleichen. Zudem soll sie für die Einhaltung des europäischen Mindestlohns und der einheitlichen Arbeitsstandards sorgen. Die Grenzschutzagentur Frontex wird zugunsten eines öffentlichen Fährbetriebs aufgelöst.

Die Annahme des Vertragswerks gilt als sicher, nachdem fast alle europäischen Regierungen unter innenpolitischen Druck geraten waren, Armut abzuschaffen. Auch die Bundesregierung hat Zustimmung signalisiert. Der Gipfel am Wochenende sei auch das letzte Mal, hieß es in einer Pressemitteilung, dass sich die Kommission, auf diese Art zusammenfinde. Vielmehr wolle man öffentlicher debattieren und die Entscheidung aus den lokalen Gremien zusammentragen.

Bild: Ole Heinsen